KI: Helfer und Täter?

Wie nachhaltig ist KI?
2
7 Min.

Text: Kai Hafner, 17.02.2021

Enormes Wachstumspotenzial! Die wichtigste technologische Innovation! Immer mehr Anwendungsfelder! Während wir jeden Tag neue Hochgesänge zur kolossalen Bedeutung von KI lesen können, und wieder andere dem Hype mit höhnischem Halbwissen entgegentreten, ist KI heute schon ein fester Bestandteil unseres täglichen Lebens geworden.

Alexa, Siri oder Cortana antworten halbwegs sinnig und tun, was sie sollen. Die Playlist beim Streamingdienst, Facebook-Feed und -Ads entsprechen unseren Vorlieben, mit perfekt dosierten „Wow!“-Erlebnissen. Automatische Übersetzungen sind gut genug, um fremdsprachige Anleitungen zu verstehen, die Heizung im Smarthome und das Auto machen sich selbständig. Bis hierhin sind das alles Funktionen für den alltäglichen Komfort. Aber wenn KI so viel kann und noch viel mehr Potenzial hat – kann sie uns nicht dabei helfen, die derzeit größte Herausforderung der Menschheit zu bewältigen?

In Anbetracht der globalen Klimakrise ist es auffällig, dass eine Frage in der breiten Öffentlichkeit noch selten zu hören ist: Wie verhalten sich eigentlich KI und Nachhaltigkeit zueinander? Was kann KI im Bereich von Umwelt- und Klimaschutz leisten?

Mit intelligenten Algorithmen lässt sich vom Warentransport bis zum Düngerverbrauch fast alles optimieren. Waldbrand-Warnsysteme, Verkehrsentlastung der Innenstädte, Apps gegen Lebensmittelverschwendung – die Bandbreite möglicher Anwendungen ist schier grenzenlos. Entsprechend ambitioniert arbeiten sowohl internationale Großunternehmen als auch junge Start-ups an KI-basierten Lösungen.

Was den Umwelt- und Klimaschutz angeht, sind die Szenarien in drei Bereichen besonders vielversprechend: Verkehr und Transport, Energie und Landwirtschaft.

Kurze Wege, perfekte Ketten und optimale Auslastung – Verkehr und Transport

Stau und verstopfte Straßen, Feinstaub, Lärmbelastung – das Verbesserungspotenzial beim Thema Verkehr und Transport ist offensichtlich. Um irgendwelche Klimaziele auch nur annähernd zu erreichen, ist eine grundlegende Transformation unserer Verkehrssysteme unabdingbar.

Eine Stellschraube von Verkehrssysteme ist die Effizienz: Jede unterlassene Fahrt bedeutet geringere Emissionen. Und hier kann die KI einiges beitragen. Denn doppelte Wege vermeiden, die kürzeste Route finden, gleichartigen Bedarf erkennen, solche Berechnungen sind eine typische Aufgabe für die KI.

Also sucht die App automatisch nach einem freien Parkplatz für das Carsharing-Auto, was zusammengerechnet viele Kilometer spart. Für einen modernen Nahverkehr und Entlastung auf Pendelstrecken sind autonome Minibusse in der Erforschung, die ihre Route in Echtzeit der Nachfrage anpassen. Schon jetzt wird die kombinierte Routenplanung und Bezahlung für unterschiedliche Verkehrsmittel mit einer Smartphone-App in vielen Städten erprobt. Der nächste Schritt heißt Intermodalität. So nennt sich die nahtlose und optimale Verknüpfung wirklich aller Verkehrsmittel und Wege, am besten unter Berücksichtigung des Wetters: Kündigt sich ein Regenschauer an, navigiert der digitale Wegbegleiter seinen Nutzer zur Shuttle- statt zur Bike-Sharing-Station.

Mit Rechenpower lassen sich LKW-Leerfahrten vermeiden, Zustellfahrzeuge können zentral beladen und navigiert werden, damit nicht jeder Lieferdienst jede Ecke der Stadt ansteuern muss. Was sich am Ende aber wirklich durchsetzt, ist weniger eine Frage der künstlichen als der menschlichen Intelligenz und des politischen Willens.

Neue Stoffe, Echtzeit-Analysen und detektivisches Talent – Energiesektor

Im Energiesektor, der sehr viel Treibhausgas freisetzt, kann KI auf vielen Ebenen unterstützen: Die Wende zur dezentralen Erzeugung erneuerbarer Energie ist ohne sie kaum denkbar. Für ein stabiles Stromnetz liefert sie beispielsweise viertelstündlich Vorhersagen zur erwarteten Leistung Tausender Anlagen, und steuert diese mithilfe virtueller Kraftwerke. Durch die Verknüpfung von vorhandenem Wissen, physischen Gesetzen und experimentellen Daten beschleunigt KI die Entwicklung von neuen Technologien, zum Beispiel von Solartreibstoffen und leitfähigen Stoffen für Akkus, mit denen sich Energie aus regenerativen Quellen speichern lässt.

Klimaschädliche Lecks in Gaspipelines – solange es sie noch gibt – sind mit KI ein vermeidbares Übel: per Sensor oder Satellitenüberwachung entdeckt, Reparaturauftrag geschrieben, das geht alles automatisch. Überhaupt ist „predictive maintenance“, also vorausschauende Instandhaltung, überall dort, wo Energie verloren geht, ein Anwendungsgebiet der KI mit großem CO2-Einsparpotenzial.

Optimieren, kalkulieren, kontrollieren – Land- und Forstwirtschaft

Mehr als ein Fünftel des weltweiten Ausstoßes von Treibhausgasen geht auf das Konto der Landwirtschaft. Das liegt nicht nur, wie allseits bekannt, an der Viehwirtschaft und der Abholzung von Wäldern für Weide- und Ackerland. Der Ackerbau selbst, der theoretisch klimaneutral sein könnte, weil die Pflanzen CO2 speichern, ist alles andere als unschuldig an der Klimamisere. So wird beim Pflügen reihenweise in der Erde gebundenes CO2 freigesetzt, Mineraldünger und Nassreisanbau emittieren die noch schädlicheren Klimagase Lachgas und Methan. Wie kann die Land- und Fortwirtschaft mithilfe von künstlicher Intelligenz weniger klimaschädlich werden?

Noch in der Entwicklung und Erprobung sind KI-Anwendungen wie das Monitoring von Urwäldern und Moor- und anderen Naturschutzgebieten oder die automatisierte Aufforstung. Darunter fällt beispielsweise die Berechnung des idealen Standorts, die Aussaat per Drohne und die Überwachung von Pflanzengesundheit und Wachstum.

Noch in der Entwicklung und Erprobung sind KI-Anwendungen wie das Monitoring von Urwäldern und Moor- und anderen Naturschutzgebieten

Smart Farming oder Präzisionslandwirtschaft sind Synonyme für den KI-unterstützten Anbau – der durchaus auch benachteiligten Bevölkerungsgruppen zugutekommen kann. FarmGrow zum Beispiel, ein von der Rainforest Alliance und der Grameen Foundation gegründetes soziales Unternehmen, unterstützt Kleinbauern in den wichtigsten kakaoproduzierenden Regionen der Welt mithilfe von „smarter“ Technologie.

Weil die beteiligten Kakaofarmen weit verstreut und oft sehr abgelegen sind, entscheiden die FarmGrow-Berater anhand von Fernanalysen des Laubdachs, wo ihre persönliche Unterstützung am dringendsten benötigt wird. Anhand von Satellitenbildern beurteilen sie die Anordnung der Kakaobäume, den Schatten- und Jungbaumbestand, beides wichtig für den Ertrag, und erfahren von Rodungen. In Verbindung mit eigenen Angaben des Bauern, etwa zu seinen Investitionsmöglichkeiten, und im System hinterlegten Best Practices zur Boden- und Pflanzengesundheit wird ein individueller mehrjähriger Plan zur umweltfreundlichen Ertragssteigerung erstellt, den der Kakaofarmer per Smartphone abrufen und bearbeiten kann.

Kein Licht ohne Schatten

Entscheidend für den Erfolg jeder noch so schlauen KI-Anwendung ist die Trainingsphase. Und dieses maschinelle Lernen, das wiederholte Abfragen, Vergleichen, Zuordnen von Datensätzen aus einer möglichst großen Datenmenge, Stichwort Big Data, frisst Unmengen an Energie. Das Training einer KI-Anwendung zur Spracherkennung kann, das hat eine Forschungsgruppe der University of Massachusetts ermittelt, fünfmal so viel CO2 erzeugen wie ein Auto während seiner gesamten Lebensdauer.

KI-Anwendungen sind zum großen Teil mitverantwortlich, dass die weltweit benötigte Rechenleistung in die Höhe schießt – wobei mangels offizieller Verbrauchsdaten die Prognosen für den Energieverbrauch im Jahr 2030 mit 200 bis 3000 Milliarden Kilowattstunden weit auseinanderklaffen und eine IT-Studie sogar von zunehmendem Traffic bei gleichbleibenden Emissionen spricht. Fakt ist, jede KI-Anwendung, auch jene mit Ambitionen im Klimaschutz, trägt zu unserem hohen Energieverbrauch bei. Und der verbrauchte Strom ist im Schnitt alles andere als grün. Was tun?

Infokasten

So wird KI wirklich nachhaltig.

Investitionen in künstliche Intelligenz sind meist an die Hoffnung auf wirtschaftliches Wachstum geknüpft. Und dieses steht leider allzu oft im Widerspruch zur Nachhaltigkeit. Damit das Potenzial der KI im Umwelt- und Klimaschutz zum Tragen kommt, braucht es geeignete Rahmenbedingungen.

Transparenz herstellen

Bei allem Verständnis für wettbewerbsbedingte Verschwiegenheit: Es müssen verlässliche Zahlen zu Energieverbrauch und -quellen eines jedes Rechenzentrums her. Idealerweise öffentlich zugänglich, durchaus als Entscheidungskriterium für die Kundschaft. Greenwashing und schöne Beteuerungen haben ausgedient.

Ziele definieren

Bei der Einführung von KI-Projekten und auch bei allen politischen Maßnahmen zur Förderung von KI müssen Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit zu den Hauptkriterien zählen. Bringt das Vorhaben einen nachhaltigen Nutzen oder beispielsweise nur noch mehr Autos auf die Straße?

Standards etablieren

Kennzahlen zur Nachhaltigkeit, einschließlich der Veröffentlichung von Zielen und Ergebnissen müssen im Management von KI-Projekten verpflichtender Standard sein.

Effizienz steigern

KI-Infrastrukturen müssen so aufgebaut werden, dass sie selbst keinen hohen Energie- und Ressourcenbedarf verursachen. Neben der grundlegenden Konstruktionsweise gibt es zyklische Lösungen, beispielsweise wenn mit der Abwärme eines Rechenzentrums das Firmengebäude oder ein Wohnviertel beheizt wird.

Grünstrom verwenden

Angesichts der rasanten Entwicklung ist ein Umstieg auf 100 Prozent erneuerbare Energien die einzig vernünftige Lösung.

Selbst mitdenken

Wann und wo ist es jeden einzelnen Anwender sinnvoll, KI-basierte Anwendungen zu nutzen: Muss es wirklich sein, dass die Sprachassistentin alle sechs Wochen die Telefonnummer der Frisörin im Internet sucht, oder speichere ich sie kurz im Adressbuch? Derartige Überlegungen, millionenfach multipliziert, sind ein Segen für die Umwelt.

Zumindest die Effizienz nimmt von alleine zu

Eine kleine Hoffnung liegt in den Marktmechanismen: Wenn ein Unternehmen einen möglichst hohen Gewinn erwirtschaften will, wird es darauf achten, dass die Energiekosten seiner KI-Produkte das Budget nicht sprengen und dafür sorgen, dass die Rechenzentren effizient arbeiten. Manchmal kann die KI dabei die Lösung für ihr eigenes Problem liefern, wie neulich im Silicon Valley: Den bis zum letzten Quäntchen optimierten Energieverbrauch seines Rechenzentrums drückte Google nochmal um etliche Prozent, indem das Unternehmen per Algorithmus die Prozesse im Rechenzentrum analysierte und tatsächlich noch Einsparungsmöglichkeiten fand. Chiphersteller wie Nvidia und Qualcomm investieren in die Produktion energieeffizienter Chipset-Architekturen. Und eine Gruppe von Datenwissenschaftlern will wenigstens das Bewusstsein für den CO2-Effekt der KI schärfen. Dafür haben sie ein Tool ins Netz gestellt, mit dem sich der CO2-Fußabdruck eines KI-Experiments berechnen und veröffentlichen lässt.

Eine Rechnung mit vielen Variablen und so mancher Unbekannten

Unsere endlichen Ressourcen durch technologische Lösungen schonen zu wollen, hat nur dann einen Sinn, wenn unter dem Strich weniger verbraucht wird. Entscheidend wird also sein, diese Schlüsseltechnologie so zu gestalten und zu nutzen, dass sie insgesamt eine positive Wirkung entfaltet. Was jetzt schon erkennbar ist: Es wird leider nicht die eine KI-Lösung geben, mit der wir schlagartig die Klimakrise ad acta legen können. Was aber denkbar und realistisch ist, ist ein Zusammenspiel vieler kleiner, partieller Anwendungen, die intelligent eingesetzt zur Nachhaltigkeit beitragen könnten.

Mit ihrem enormen Potenzial kann künstliche Intelligenz sicher wesentlich zu einem besseren Leben beitragen … unter einer Bedingung: dass wir KI verantwortungsvoll und gemeinwohlorientiert nutzen!

*Quelle: Rolnick, David & Donti, Priya & Kaack, Lynn & Kochanski, Kelly & Lacoste, Alexandre & Sankaran, Kris & Ross, Andrew & Milojevic-Dupont, Nikola & Jaques, Natasha & Waldman-Brown, Anna & Luccioni, Alexandra & Maharaj, Tegan & Sherwin, Evan & Mukkavilli, s. Karthik & Kording, Konrad & Gomes, Carla & Ng, Andrew & Hassabis, Demis & Platt, John & Bengio, Y.. (2019). Tackling Climate Change with Machine Learning.