Grüne Off-Grid-Systeme (1)

Endlich saubere Elektrizität für über eine Milliarde Menschen
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Text: Birgit Scheuch, 22.06.2022

Das UN-Nachhaltigkeitsziel #7 formuliert es eindeutig: Bis 2030 sollen alle Menschen Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie haben. Bloß wie? Durch eine unabhängige, lokale oder regionale Stromversorgung auf Basis erneuerbarer Energien.

„Ein Ort ohne Strom, das ist für uns schwer vorstellbar. Nachts, auf der Straße ohne jede Lichtquelle um dich herum, das ist gespenstisch. Da gehst du nicht aus dem Haus.“

Was Heiko Stieber, Projektleiter bei der SMA Sunbelt GmbH, auf Haiti erlebt hat, ist für rund eine Milliarde Menschen Realität: Unzählige Orte auf der Welt sind nicht an das zentrale Stromnetz ihres Landes angeschlossen. Die Aussicht, dass es je geschieht: düster. Tausende Kilometer Stromleitung müssten gebaut, betrieben und gewartet werden. Und das scheitert an technischen Mitteln – oder an einer Investitionspolitik, die Megakraftwerke und Stromtrassen für die Schwerindustrie bevorzugt, weil sie sich davon Steuereinnahmen und Prestige erhofft.

Langfristig gedacht, ist die Stromversorgung der ländlichen Bevölkerung jedoch von höchster Bedeutung für die Entwicklung eines Landes. Ohne Elektrizität ist die digitalisierte Welt unerreichbar, wirtschaftliche Teilhabe und gesellschaftliche Entwicklung erschwert. Wer sich den Luxus leisten kann, erleuchtet den Wohnraum mit einer Petroleumlampe oder erzeugt den Strom fürs Mobiltelefon und den Fernseher mit einem Dieselgenerator. Deren Emissionen aber sind Gift für die Umwelt und die Klimaziele – umso mehr bei einer stark wachsenden Bevölkerung.

Die Lösung – Off-Grid-Systeme auf Basis erneuerbarer Energien.

Diesel-Aggregate auf einem Marktplatz in Nigeria© RLI
Diesel-Aggregate auf einem Marktplatz in Nigeria (linkes Bild). Eine Visualisierung eines Off-Grid-System auf Basis erneuerbarer Energien (rechtes Bild).

Was sind Off-Grid-Systeme?

Das kleinste Off-Grid-System ist das Solar-Home-System, eine autarke Photovoltaikanlage mit Batterie und Wechselrichter, die einem Haushalt wenigstens die Nutzung einer Lichtquelle, des Mobiltelefons und eines Radios ermöglicht.

Für die kontinuierliche Stromversorgung einer Region sind Mini-Grids oder Mini-Netze die Lösung. Gemeint sind damit vom zentralen Verbundnetz unabhängige Systeme, die Strom erzeugen und ihn an Abnehmer in einem begrenzten Gebiet verteilen. Das können die Klinikgebäude eines Gesundheitszentrums sein, eine städtische Nachbarschaft, eine isolierte Siedlung oder eine Insel. Je nach Erzeugungskapazität wird auch von Micro-Grids oder Mikro-Netzen gesprochen. Sie können grundsätzlich und auf Dauer vom Stromnetz unabhängig geplant sein. Oder sie dienen als Übergangslösung bis zu einem geplanten Anschluss an das öffentliche Stromnetz.

Green Mini-Grids nutzen ausschließlich klimaneutrale Technologien, also Photovoltaik, Wind, Wasserkraft oder Biomasse zur Stromerzeugung.

Sauberer, billiger und smarter

Forscher:innen am unabhängigen, gemeinnützigen Reiner Lemoine Institut haben ein Tool entwickelt, das Szenarien für die Elektrifizierung einer Region oder auch der ganzen Welt bis 2030 visualisiert.

Ihr Renewable Energy Off-Grid Explorer zeigt, welche Investitionen und welcher Ausstoß von Treibhausgasen zu erwarten sind, wenn die 100-prozentige Elektrifizierung nach bisherigem Muster – oder durch Netzausbau, neue Mini-Grids und Solar-Home-Systeme in unterschiedlicher Kombination geschieht.

Nach dieser Kalkulation wäre eine Versorgung der Weltbevölkerung überwiegend mit Off-Grid-Systemen erstens machbar. Zweitens würde sie weniger kosten als der vorrangige Ausbau von zentralen Netzen. Drittens würden kleinere lokale Stromnetze auf Basis erneuerbarer Energien nur geringe Treibhausgas-Emissionen verursachen und die Installation von Solar-Home-Systemen gar keine.

Das Fazit der dazugehörigen, vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) geförderten Studie lautet: Die Elektrifizierung mithilfe von Off-Grid-Lösungen auf Basis erneuerbarer Energien ist sauberer, billiger und intelligenter als alle anderen Optionen.

Die Modellrechnungen des Reiner Lemoine Instituts zeigen: Die Elektrifizierung mithilfe von Off-Grid-Lösungen auf Basis erneuerbarer Energien ist sauberer, billiger und intelligenter. Grafik: GIZ

Globaler Top-Trend – dezentrale, netzunabhängige und nachhaltige Energiesysteme

Institutionen wie die Weltbank, Forschungsinstitute und Wirtschaftsexpert:innen haben Off-Grid-Systeme auf der Agenda. Die Förderprogramme des Climate Investment Fund, der Afrikanischen Entwicklungsbank, der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), von USAid, Initiativen der Wirtschaft und wirtschaftsnaher Institutionen wie der Rockefeller Foundation belaufen sich auf Milliarden von Euro und US-Dollar.

Denn mit grünen Off-Grid-Systeme wird das UN-Nachhaltigkeitsziel #7, der allgemeine Zugang zu Energie überhaupt erst realistisch, ohne dass ein zweites Nachhaltigkeitsziel, die Abschwächung des Klimawandels, dafür geopfert werden muss.

Weltweit könnten laut einem Hochrechnung der ESMAP (ein Programm der Weltbank) durch die Installation von 210.000 solarbetriebenen Mini-Stromnetzen im Vergleich zu herkömmlichen Szenarien 1,5 Milliarden Tonnen CO2-Emissionen vermieden werden.

Kurz gesagt, Mini-Netze haben zusammen mit netzunabhängigen Solaranlagen ein großes Potenzial, der Welt bei der kostengünstigen Verwirklichung des Nachhaltigkeitsziels #7 bis 2030 zu helfen.

Mini-Grids Market Report 2020

In der Praxis erklären sich die massiven Investitionen so: Die Politik erhofft sich von der Forschung Erkenntnisse für den Export. Die Wirtschaft sichert sich Absatzmärkte – zunächst für Technologien rund um erneuerbare Energien und mit dem zunehmenden Wohlstand elektrifizierter Regionen für weitere Produkte und Dienstleistungen. Und der Emissionshandel braucht Projekte, die sich für einen CO2-Ausgleich über Zertifikate eignen.

Parallel hierzu sind die Herstellungskosten für grüne Mini-Grids im letzten Jahrzehnt erheblich gesunken, was die Attraktivität noch steigert. Laut dem ESMAP-Bericht wird die Kilowattstunde Strom aus Mini-Netzen im Jahr 2030 gegenüber jetzt um zwei Drittel niedriger sein.

Daten und Fakten zur Schließung der Stromversorgungslücke mithilfe von Mini-Grids.
Quelle: Mini Grids for Half a Billion People: Market Outlook and Handbook for Decision Makers 2019, Weltbank/ESMAP

Und so steigen die Chancen auf eine flächendeckende Versorgung der schwach elektrifizierten Länder bis 2030. Pro Jahr und Land wären dafür laut ESMAP 1600 neue Mini-Netze zu installieren und würden schließlich 40 Prozent des weltweiten Strombedarfs von Mini-Grids erzeugt und verteilt. Wie das konkret umsetzbar ist, ist im zweiten Teil unseres Beitrags zu lesen.