Virtuelle Kraftwerke

Dreh- und Angelpunkt der dezentralen Energieversorgung
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Text: Kai Hafner, 21.01.2021

Ein lauer Sommerabend in einer nicht allzu fernen Zukunft, zum Dessert gibt es ein erfrischendes Zitronensorbet. Doch wer hält den Gefrierschrank am Laufen, wenn unser Strom zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien stammt und mit dem Sonnenuntergang die Photovoltaik schlappmacht? Das regelt ein virtuelles Kraftwerk.

Virtuelle Kraftwerke sind ein wesentlicher Baustein der Energiewende. Obwohl der Begriff schon in den 1990ern aufkam, nahm die Entwicklung erst gut zehn Jahre später Fahrt auf. 2007 hatte das Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik, IWES, nachgewiesen, dass eine komplett regenerative Stromversorgung prinzipiell möglich wäre, indem es verschiedene Energiequellen koppelte und nach Bedarf hoch- und herunterfuhr.

Im zweiten Teil des Forschungsprojekts ging es um die Netzstabilität, die für eine sichere Stromversorgung landauf, landab und rund um die Uhr unabdingbar ist. Netzstabilität bedeutet im Wesentlichen, dass zu jeder Zeit so viel Strom in das Netz hineinfließt, wie gerade entnommen wird. Bei zu großen Frequenzschwankungen geht das Stromnetz in die Knie.

Wenn mittlerweile statt einigen Hundert Kohle-, Gas- und Atomkraftwerken Zehntausende Windräder und Solarmodule mitspielen wollen, wird es kompliziert. Denn sie erzeugen je nach Wetter, Jahres- und Tageszeit landauf, landab unterschiedlich viel Strom.

Steuerzentrale für ein stabiles Netz

Hier treten nun virtuelle Kraftwerke auf den Plan. Sie verknüpfen und koordinieren über eine digitale Infrastruktur aus Kommunikations-, Kontroll- und Steuerungsprogrammen dezentrale Anlagen zur Stromproduktion. Sie agieren am Strommarkt wie ein stationäres Kraftwerk, stellvertretend für die Gruppe ihrer Stromerzeuger.

Was ihre Kraftwerksleistung angeht, sind virtuelle Kraftwerke äußerst anpassungsfähig. Bei geringer Nachfrage werden einzelne Anlagen heruntergeregelt, also zum Beispiel die Rotoren in einem Windpark auf Durchzug gestellt. Dazu kommen je nach Geschäftsmodell industrielle Abnehmer oder Speicher, die sich bei Erzeugungsspitzen, zum Beispiel in den zur Gruppe gehörenden Solarparks, automatisch zuschalten.

Den von seinen (bisher nur gewerblichen) Kunden erzeugten Strom verkauft das Unternehmen an den Strombörsen zum jeweiligen Bestpreis – oder als „Regelenergie“ an die Übertragungsnetzbetreiber: Kommt es unerwartet zu einer erhöhten Stromnachfrage oder einem Leistungsüberschuss, wird zum Ausgleich der Strommenge im Netz kurzfristig positive oder negative Regelenergie benötigt.

Ein gut aufgestelltes virtuelles Kraftwerk zeigt hier seine besondere Stärke: Es kann die entsprechenden Anfragen der Übertragungsnetzbetreiber wegen seines vielfältigen Portfolios blitzschnell bedienen, indem es seine Quellen und Verbraucher über die Fernsteuerung direkt zu- oder abschaltet.

Auch für einige Dienstleistungen zum Systemschutz sind virtuelle Kraftwerke prädestiniert: Über fast zwei Millionen Kilometer Stromleitung bis in den letzten Winkel der Republik die Stromspannung und -frequenz aufrechtzuerhalten ist keine Lappalie – bei zu großen Schwankungen droht ein Blackout. Um die Stromversorgung in einem solchen Fall wieder aufzubauen, braucht es Kraftwerke, die ohne externe Stromquelle funktionieren. Sie helfen jenen Kraftwerken wieder auf die Beine, die für den Betriebsstart Strom benötigen. Derzeit sind das hauptsächlich Gas- und Wasserkraftwerke; künftig könnten es auch Inselnetze rund um virtuelle Kraftwerke sein.

Virtuelle Kraftwerke
Virtuelle Kraftwerke verknüpfen eine digitale Infrastruktur dezentraler Anlagen zur Stromproduktion und sind ein wesentlicher Baustein der Energiewende.

Vermittler im Dickicht des Stromgeschäfts

Mittlerweile betrifft das Thema Netzstabilität auch die dezentralen Erzeuger von „grünem“ Strom: Je höher ihr Anteil am Strommix, desto höher muss logischerweise ihre Mitverantwortung werden. Zumal die Aufgabe mit immer mehr Marktteilnehmern und der zunehmenden Elektrifizierung nicht einfacher wird. Also wurden entsprechende Gesetze auf den Weg gebracht – die Pflicht zur Direktvermarktung beispielsweise. Die Mindestmenge an erzeugtem Strom, ab der sie einsetzt, sinkt stetig und tangiert letztlich auch private Erzeuger, wenn deren garantiertes Recht auf Einspeisung verfällt. Seinen überschüssigen Strom darf der Anlagenbesitzer im Sinne der Netzstabilität nicht unkontrolliert einspeisen, noch nicht mal verschenken.

Super, denkt sich der Betreiber einer kleinen Photovoltaikanlage, wie kann ich mich also direkt beim nächsten virtuellen Kraftwerk anmelden? Eine solche Beteiligung ist allerdings nicht ganz trivial: Die mitwirkenden Anlagen müssen fernsteuerbar und -abfragbar sein. Die dafür notwendige Technik: kein Schnäppchen. Ein zweiter Kostenfaktor sind die Grundbeträge an den Direktvermarkter, die bei Kleinstanlagen in keinem sinnvollen Verhältnis zu den Einnahmen pro eingespeister Kilowattstunde stehen. Bisher lohnte sich die Ausrüstung mit einem intelligenten Mess- und Kommunikationssystem und der organisatorische Zusammenschluss zu einem virtuellen Kraftwerk nur für gewerbliche Erzeuger und Verbraucher.

Bestrebungen, die Situation zu ändern, gibt es von verschiedener Seite, so drängen Solarverbände auf neue gesetzliche Regelungen. Durch Vereinfachungen bei der Registrierung von Kleinsterzeugern oder Änderungen an der Zusammensetzung des Strompreises würden Peer-to-Peer-Konzepte, wie das von enyway oder der Zusammenschluss zu einem Micro Grid auch für Liese Müller attraktiv.

Weil auch die aktuell betroffenen Kleinanlagen mit einer Höchstleistung unter sieben Kilowattstunden in ihrer Gesamtheit für die Energiewende unverzichtbar sind, müssen Lösungen her!

Eine Handvoll Energieversorger hat schon jetzt oder in absehbarer Zeit konkrete Angebote, bei denen sie beispielsweise einen Zuschuss zur technischen Ausstattung leisten und den Ökostrom an ihre Bestandskunden vermarkten, also selbst das virtuelle Kraftwerk bereitstellen. Den Rest wird hoffentlich der Wettbewerb richten. Auf dass wir auch in Zukunft Zitronensorbet genießen können!

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