Wer bewahrt uns vor dem Verkehrskollaps?

Die Füße: Über die Zukunft unserer Mobilität
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Text: Kai Helzer, 25.11.2019

Wir schreiben das Jahr 2035. Die Welt ist ein wunderbarer Ort unbegrenzter nachhaltiger Mobilität. Das Wort „Verkehrskollaps“ findet sich nur noch in alten Zeitungen, deren Seiten immer mehr verblassen. Jeden Tag pendeln Millionen Menschen zufrieden mit elektrischen Flugtaxis in die Innenstädte, um von dort per Carsharing, E-Roller oder Ride-Hailing bequem zu ihren persönlichen Zielen zu kommen. Sie ist schön, die Mobilität der Zukunft wie sie unserem Verkehrsminister vorschwebt. Modern, aufregend, sauber, bequem. Und leider auch ziemlicher Quatsch. Das sagt zumindest Tim Holthaus. Er forscht an der Bergischen Universität Wuppertal über Güterverkehrsplanung und Transportlogistik und setzt sich dabei intensiv damit auseinander, wie wir unsere Städte wirklich vor dem Verkehrskollaps bewahren können. Seine Lösung für die Mobilität von morgen: eher Neandertaler als Star Trek.

Herr Holthaus, mal aus Forschersicht: Können Sie es, angesichts verstopfter Innenstädte, kaum erwarten, mit dem Flugtaxi einzuschweben?

Tim Holthaus: Ich erwarte keine wesentlichen neuen Verkehrsmittel. Die in der letzten Zeit in den Medien propagierten Flugtaxis sind weder nachhaltig noch als Massenverkehrsmittel zukunftsfähig. Auch wenn der elektrische Betrieb suggeriert, es handle sich um eine nachhaltige und klimafreundliche Lösung, sollten wir nie vergessen, dass Energie stets aus dem System Umwelt abgegriffen und somit die Energiegewinnung immer Auswirkungen auf unsere Umwelt haben wird. Der Energiebedarf zum Abheben ist enorm …

Und wie sieht es mit E-Scootern aus? Die werden in fast allen großen Städten weltweit gerade gerne genutzt, sorgen aber auch für heiße Diskussionen.

TH: E-Scooter sind für vereinzelte Situationen ein tolles Verkehrsmittel. Von einem entsprechenden Sharingsystem erwarte ich allerdings keinen Beitrag zur Steigerung der Nachhaltigkeit im Verkehr. Vielmehr gehe ich davon aus, dass stattdessen weniger zu Fuß gegangen wird und das Fahrrad häufiger stehen bleibt.

Soll das bedeuten, die Zukunft der Mobilität ist Fahrrad fahren und Zufußgehen? Letzteres macht der Mensch schon seit über drei Millionen Jahren – nicht gerade innovativ, oder?

TH: Die Basis unserer individuellen Mobilität stellt das Zufußgehen dar, das durch das Radfahren auf kurzen Wegen gut ergänzt wird. Bei der nachhaltigen und umweltfreundlichen Massenmobilität ist und bleibt für mich der öffentliche Personennahverkehr die beste Lösung. Durch ihn werden einzelne Wege gebündelt und in guten Systemen – wie z. B. in Berlin – hat kein Nutzer Nachteile in puncto Flexibilität. Der Takt ist hoch und das Liniennetz dicht. Wartezeiten existieren kaum.

„Ich würde mir von der Politik und Planung wünschen, dass wir unsere aktuellen Probleme angehen und nicht über Flugtaxis, autonome Fahrzeuge oder E-Scooter diskutieren.“

Tim Holthaus





Das ist aber schon eher eine Lösung für große Städte wie Berlin. Oder erwarten Sie, dass in Zukunft auch jeder noch so kleine Ort einen fünf Minuten Bustakt haben sollte? Wäre es hier nicht sinnvoll, den ÖPNV durch privatwirtschaftliche Angebote zu ergänzen?

TH: Für mich steht fest, dass wir den öffentlichen Personenverkehr in allen Regionen Deutschlands stärken und dieses soziale System auch vor ökonomischer Konkurrenz schützen müssen. Ich möchte nicht, dass sich nach dem Wegfall des öffentlichen Personennahverkehrs nur noch finanziell gut situierte Personen Uber leisten können, weil Uber sein Gewinnmaximum in Form von „hohen Einnahmen“ definiert und nicht in Form von „einer großen Menge beförderter Menschen“.

In Zukunft sollten wir auch Sharingsysteme sinnvoll in den ÖPNV integrieren. Das bedeutet, dass Gebiete, die heute nur schlecht durch den ÖPNV angebunden sind, und durch herkömmliche Systeme nicht oder nur schwer erschlossen werden können, eine Verbesserung durch Car- oder Bikesharing erfahren können. Doch auch hier sollte auf ein ortsspezifisches, passgenaues Angebot geachtet werden.

Ihr Forschungsschwerpunkt ist Güterverkehrsplanung und Transportlogistik. Seit dem Boom des Onlineshoppings ist gefühlt jedes dritte Fahrzeug in der Stadt ein Lieferwagen. Mit welchen Konzepten könnte man darauf reagieren?

TH: Ähnlich wie beim Personenverkehr ist die Bündelung der Schlüssel zur Effizienz. Zusätzlich müssen die Rahmenbedingungen durch die Kommunen so gestaltet werden, dass sich emissionslose Fahrzeuge lokal durchsetzen, wo sie einen Betrag zur Luftreinhaltung und Attraktivitätssteigerung der Stadt leisten. Im Idealfall werden Sie von einem Paketdienstleister pro Tag beliefert. In der Regel sind es aber mehr. Im Ergebnis wird die Straße so mehrmals von verschiedenen Paketdienstleistern befahren.

Hätten Sie als Empfänger die Möglichkeit den Paketdienstleister zu wählen, würden Sie versuchen alles über einen abzuwickeln. Das erspart die mehrmalige Annahme von Paketen. Aufgrund der Vielzahl von Bestellern in Ihrer Straße wird dies aber nicht zwangsläufig die Anzahl an einfahrenden Lieferfahrzeugen verändern, weil Ihr Nachbar sich für einen anderen Paketdienstleister entscheidet.

Genau hier liegt ein großes Einsparpotenzial. Würden Paketdienstleister kooperieren, könnten sie selber Kosten sparen, weil dann in deiner Straße nur noch ein Fahrzeug einfährt. Aufgrund der Konkurrenz zwischen den Dienstleistern ist eine Kooperation aber nicht zu erwarten, auch wenn das volkswirtschaftlich gesehen den größten Nutzen ergeben würde.

In der Stadt der Zukunft fahren nur noch Fahrräder? Wohl eher nicht! Da ist sich unser Experte Tim Holthaus ziemlich sicher.
Tim Holthaus SMA Sonnenallee Mobilität

Sollten wir dann als Verbraucher im Sinne des Klimaschutzes den Komfort der Lieferung bis zur Haustüre verzichten? Also wieder mehr einkaufen GEHEN? Womit wir wieder bei den Füßen wären.

TH: Die Frage ist, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen und was wir unter Komfort verstehen. Durch den Online-Handel hat sich der Eindruck verbreitet, dass Waren immer günstiger werden und schneller geliefert werden, was zu steigenden Ansprüchen an die Logistik führt.

Insgesamt steigen die Lieferhäufigkeiten und die Ansprüche an die zeitliche Erreichbarkeit der Innenstädte für Lieferdienste nehmen zu.

Der Onlineeinkauf ist nicht grundsätzlich schlecht zu bewerten. Trotzdem sollte hinterfragt werden, ob derselbe Artikel nicht auch im Handel vor Ort erworben werden kann. Insbesondere im Kleidungssegment ist dies oft der Fall. Der Onlineeinkauf führt zu einem Umsatzverlust im lokalen Handel, was letztendlich den lokalen Handel gefährdet und somit zu einem Rückgang der vor Ort beziehbaren Produkte führen kann.





Spielen wir zum Schluss das Gute-Fee-Spiel: Wenn Sie sich ein Mobilitätskonzept wünschen dürften, das morgen realisiert wird – welches wäre das?

TH: Ich würde mir von der Politik und Planung wünschen, dass wir unsere aktuellen Probleme angehen und nicht über Flugtaxis, autonome Fahrzeuge oder E-Scooter diskutieren. Damit meine ich nicht, dass wir diese Mobilitätsformen unterbinden oder vergessen sollten. Es geht vielmehr darum, die Prioritäten richtig zu legen.

Konkret: Wir sollten unser überörtliches Straßennetz nur noch erhalten und den Neubau vermeiden. Parallel dazu sollte mehr in die Schieneninfrastruktur investiert werden. Bezogen auf den Fernverkehr ist auch die steuerliche Begünstigung von Flugreisen kritisch zu hinterfragen.

In der Region und in den Städten sollte der Radverkehr stärker gefördert werden und gemeinsam mit dem ÖPNV eine Alternative zum Pkw-Verkehr darstellen. Der Vorschlag zur Novellierung der StVO führt viele „Werkzeuge“ zur Unterstützung der Verkehrswende ein.

Der motorisierte Verkehr in den Innenstädten sollte generell verringert werden. Das erhöht die Aufenthaltsqualität und damit auch die Attraktivität des lokalen Handels.

Herr Holthaus, vielen Dank für das Gespräch.