Die Stadt als Reallabor
Autos sollen in Zukunft nicht mehr nur den größten Teil des Tages faul herumstehen, sondern als Energiespeicher dienen. In den Niederlanden will eine ganze Gemeinde die Elektroautos als Stromspeicher nutzen und so zur weltweit ersten „bidirektionalen Stadt“ werden.
Lastspitzen über die Auto-Batterie abfangen
Strom nachhaltig zu erzeugen und ins Netz einzuspeisen ist eine der Herausforderungen der Energiewende, denn Wind und Sonne stehen leider nicht immer in konstanter Menge zur Verfügung. Eine mögliche Lösung, um Schwankungen in den Stromnetzen auszugleichen, bietet das bidirektionale Laden: Elektrofahrzeuge können nicht nur Strom zum Laden aus dem Netz entnehmen, sondern diesen bei Bedarf auch wieder ins Netz einspeisen. Hunderte, Tausende oder sogar Millionen von Elektroautos könnten so zu rollenden Energiespeichern werden und Schwankungen im Energiesystem ausgleichen. Sie könnten Toaster aufladen, Schulen beleuchten und im Kino für Licht und Ton sorgen.
Utrecht – Stadt der Zukunft
In der niederländischen Stadt Utrecht ist man der Gegenwart einen Schritt voraus. Vor drei Jahren wurde direkt am Hauptbahnhof das größte Fahrradparkhaus der Welt eröffnet, in dem auf drei Etagen insgesamt 12.500 Fahrräder Platz finden. Zu Beginn des Jahres 2022 eröffnete der deutsche Discounter Aldi Nord ausgerechnet in Utrecht seine erste vollautomatische Filiale, in der die Kunden mit Künstlicher Intelligenz und ohne Portemonnaie einkaufen könne. Und seit dem Sommer 2022 wird die Stadt mit ihren über 360.000 Einwohnern zum Reallabor für Elektromobilität und bidirektionales Laden. Zusammen mit der Gemeinde Utrecht haben der Autohersteller Hyundai und der Mobilitätsdienstleister We Drive Solar ein Projekt ins Leben gerufen, das Utrecht zur ersten Region weltweit mit einem bidirektionalen Energie-Ökosystem machen wird. In der ganzen Stadt wird jetzt getestet, wie das Laden in zwei Richtungen in der Praxis und in großem Maßstab funktionieren kann.
Ein neues Stadtviertel
Herzstück des Projektes zum bidirektionalen Laden ist das neue Stadtviertel Cartesius, das derzeit in der Nähe des Utrechter Hauptbahnhofs entsteht. Das 13 ha große Gelände, auf dem früher Züge rangiert und repariert wurden, wird in ein nachhaltiges Stadtquartier mit über 2.500 Häusern und Wohnungen umgewandelt. Die Entwickler MRP und Ballast Nedam Development haben sich dabei vom Konzept der „Blauen Zonen“ leiten lassen. Dieser Begriff wird für Regionen weltweit verwendet, in denen Menschen länger und gesünder leben. Okinawa in Japan und Sardinien in Italien gehören dazu, genau wie die Gemeinde der Sieben-Tags-Adventisten in Loma Linda/Kalifornien (USA). Menschen, die in Blauen Zonen leben, werden älter (häufig über 100 Jahre alt) und leiden seltener an Krebserkrankungen. Das neue Cartesius-Viertel wurde rund um die Themen der Blauen Zonen – etwa Mobilität, gesunde Ernährung und Gemeinschaft – entwickelt. Im Mittelpunkt steht das historische CAB-Gebäude von 1949. Früher wurden hier Busse repariert, künftig wird es zum Gemeinschaftsraum des neuen Viertels, mit Foodhall, Öko-Supermarkt und Arbeitsplätzen für Kreative. Rund um das CAB und die Wohngebäude entstehen ein zentraler Park und öffentliche Nutzgärten, in denen die Bewohner gesundes Gemüse anbauen können. Auch bei der Planung der Wohngebäude wurde der Fokus auf Nachhaltigkeit gelegt. Egal ob Sozialwohnung oder Townhouse: sämtliche Gebäude werden energieneutral geplant, samt Fassadengrün und Solarlösungen auf dem Dach. Sogar an Nistmöglichkeiten für Vögel haben die Architekten von Mecanoo gedacht!
Rollende Speicher
Und der Verkehr? Zwar ist das gesamte Viertel autofrei, Raum für nachhaltige Mobilität gibt es dennoch zur Genüge. Und zwar nicht nur für Fußgänger und Fahrradfahrer: In Cartesius liegt kein Strand unterm Pflaster, sondern die Tiefgarage direkt unter der Grünanlage. Hier sollen nach dem Willen der Planer künftig vorwiegend Car-Sharing-Fahrzeuge stehen, die von den Bewohnern gemeinsam genutzt werden. Ende April 2022 wurden die ersten bidirektional ausgerüsteten IONIQ 5-Modelle des koreanischen Herstellers Hyundai im CAB der Öffentlichkeit präsentiert. Noch im Laufe dieses Jahres soll die Flotte auf 150 Fahrzeuge anwachsen. Alle Fahrzeuge sind für „Vehicle to Grid“ ausgelegt, können also den in der Batterie gespeicherten Strom wieder ins Netz zurückspeisen. Yukihiro Maeda, Head of Cross-Carline (Hyundai Motor Europe) findet es faszinierend, dass das Auto künftig nicht mehr nur ein Gerät ist, das dem Netz Energie entzieht, sondern ein echter Teil des Netzes wird: „Energie aus erneuerbaren Quellen ist davon abhängig, ob die Sonne scheint oder der Wind bläst. Es wird immer wichtiger, dass wir in der Lage sind, die Energie zu speichern und sie später zu nutzen, wenn sie gebraucht wird. Tagsüber lädt das Fahrzeug seine Batterie mit Energie aus dem Netz. Diese Energie kann dann abends oder nachts genutzt werden, um das Netz bei schwankender Nachfrage auszubalancieren. Morgens kann sich der Fahrer dank der intelligenten Software über sein voll aufgeladenes Fahrzeug freuen.“
Grenzenloses Potenzial
Für Daniele Vacca, den Experten für Charging Performance/Interoperability beim Hyundai Motor Europe Technical Center, sind die Möglichkeiten der neuen Technologie noch lange nicht ausgeschöpft: „In Zukunft kann jede Stadt, jeder Mensch, jeder Haushalt harmonisiert werden. Mit einem Algorithmus, der Energieproduktion und -nachfrage überwacht, machen die installierten erneuerbaren Energielösungen zur Nutzung der Sonnenkraft jeden Haushalt zum Energieproduzenten im Kleinen. Die Menschen werden begreifen, dass nicht jedes Auto zu jeder Zeit immer ganz vollgeladen sein muss. Weil das System auf die unterschiedlichen Energiequellen zugreifen und die Verteilung synchronisieren kann, wird die Nachfrage insgesamt sinken. Produktion und Verbrauch werden gesteuert: die Energie, die Ihr Haus produziert, wird vielleicht für die Schulbeleuchtung oder ein Kino genutzt werden. Das Potenzial dahinter ist grenzenlos!“
Wie funktioniert bidirektionales Laden?
Elektroautos fahren nur mit Gleichstrom. Deshalb wird beim Laden eines E-Autos der Wechselstrom (AC) aus dem Stromnetz durch das Ladegerät oder einen Wandler im Auto in Gleichstrom (DC) umgewandelt. Soll der im E-Auto gespeicherte Gleichstrom nicht fürs Fahren genutzt, sondern im Haus verwendet oder wieder ins Stromnetz zurückgeladen werden, wird er vom Ladegerät oder Wandler wieder in Wechselstrom umgewandelt.
Was bedeutet V2G, V2H oder V2X?
Wenn es um das bidirektionale Laden geht, stehen häufig Akronyme wie V2G oder V2H im Raum. V2G steht für „Vehicle-to-Grid“ und wird genutzt, wenn es um das bidirektionale Laden vom Fahrzeug (engl. „vehicle“) ins Stromnetz (engl. „grid“ bedeutet „Netz“) und umgekehrt geht. V2X heißt Vehicle-to-Everything /engl. „Alles“ und ist der Überbegriff für alle möglichen Nutzungsfälle: eben V2G, aber auch Vehicle-to-Home (V2H, Home = engl. Zuhause) oder Vehicle-to-Building (V2B, Building = engl. Gebäude).
Für welche Zwecke kann bidirektionales Laden genutzt werden?
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OPTIMIERUNG DES EIGENVERBRAUCHS
Der in der Fahrzeugbatterie gespeicherte Strom kann in Verbindung mit einem Energiemanagementsystem für den direkten Verbrauch vor Ort genutzt werden.
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NETZDIENLICHES LADEN/KAPPEN VON LASTSPITZEN
Der Netzbetreiber kann das Ladeverhalten der Fahrzeugbatterie beeinflussen, um Lastspitzen im Stromnetz zu verringern. Fahrzeuge werden zum Beispiel dann geladen, wenn gerade viel Strom zur Verfügung steht.
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VERMARKTUNG VON STROM
Der Strom kann auch an einen Lieferanten oder Händler verkauft werden. Dieser gibt in Abstimmung mit dem lokalen Netzbetreiber ein Steuersignal, mit dem der Strom dann abgerufen wird.
Welche technischen Voraussetzungen sind nötig?
Bidirektionales Laden ist vor allem dort sinnvoll, wo das Auto tagsüber lange steht und an eine Ladestation angeschlossen werden kann. Bislang kommen dort vor allem AC-Ladestationen bis 22 kw wie der SMA EV Charger zum Einsatz. Auf dem Markt gibt es bislang nur vereinzelte Anbieter von teuren DC-Lösungen mit dieser Leistung. Natürlich könnte man den Strom auch im Fahrzeug umwandeln. Doch zum einen geht das nicht mit dem international üblichen Ladestandard CCS (Combined Charging System), sondern nur mit der in Japan entwickelten Lade-Schnittstelle CHAdeMo (Charge de Move/Laden zum Bewegen). Zum andern hat die Automobilindustrie in Europa und den USA derzeit noch keine einheitliche Norm für bidirektionale Kommunikationsschnittstellen im Fahrzeug. Das könnte sich ändern, sobald der einheitliche Kommunikationsstandard ISO 15118-20 eingeführt wird.
Welche Hürden müssen sonst noch überwunden werden?
Gerade in Deutschland fehlen derzeit noch die technischen und regulatorische Rahmenbedingungen, um das bidirektionale Laden flächendeckend und schnell einzuführen. Sollten irgendwann die von der Nationalen Plattform „Zukunft der Mobilität“ empfohlenen 10 Millionen Elektrofahrzeuge auf unseren Straßen unterwegs sein, werden die Stromnetze ganz neuen Belastungen ausgesetzt sein. Bislang ist die sichere und netzdienliche Be- und Entladung noch nicht sichergestellt, es fehlen entsprechende Steuerungs-, Mess- und Sicherheitsmechanismen.
In diesem Artikel liefert Lisa Spangenberg, Expertin in Sachen Ladetechnologie bei SMA, weitere Infos zum Thema bidirektionales Laden und erklärt, warum elektrisches Fahren heute schon kostengünstiger als der Benziner ist.