Eine Insel als Zukunftslabor

Astypalea wird zum Modell für klimaneutrale Mobilität
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Volkswagen AG

Text: Anne Pohl, 20.07.2022

Im Hafen der griechischen Insel Astypalea dümpeln buntbemalte Fischerboote. Wie ein kubistisches Schneckenhaus winden sich die typischen strahlend weißen Häuserwürfel der Kykladen den Berg hinauf zu einem venezianischen Kastell aus dem 13. Jahrhundert. Über dem Hafen, in einer Windschneise im Hauptort Chora, stehen acht altertümliche Turmwindmühlen mit roten Dächern in Reih‘ und Glied. Wie ein vorgreifender Anachronismus wirkt der frisch asphaltierte kleine Parkplatz nebenan, auf dem zwei Elektroautos der neuesten Generation an einer futuristischen Ladesäule tanken.

Smart und nachhaltig

Wir sind auf Astypalea, einer kleinen Insel zwischen Kykladen und Dodekanes. Hundert Quadratkilometer groß, vergleichbar mit Sylt, mit etwa 1300 Einwohnern. Im Sommer sind es einige mehr, dann kommen rund 70.000 Reisende vor allem aus Deutschland und Italien, die auf der Suche nach touristisch wenig erschlossenen Orten hier landen.

Das könnte sich bald ändern: Nach dem vor vier Jahren gescheiterten Versuch, Astypalea zur ersten rauchfreien Insel der Welt zu machen, haben der Volkswagen-Konzern und die griechische Regierung vor kurzem mit viel Medienaufmerksamkeit ein fast ebenso ehrgeiziges Projekt gestartet: Sie wollen alle Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor abschaffen und Astypalea bis 2026 zur „smarten und nachhaltigen“ Insel, zu einer Modellinsel für klimaneutrale Mobilität machen.

Weiße Häuser und Windmühlen auf der Insel AstypaleaVolkswagen AG
„Die Komplexität der Mobilitätsentscheidungen ist auf einer kleinen Insel deutlich niedriger als in der Großstadt.“ - Nikolaos Komineas, Bürgermeister von Astypalea
Bewohner von Astypalea steht vor seinem ElektroautoVolkswagen AG

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Nikolaos Komineas ist seit 2019 Bürgermeister von Astypaleia und die treibende Kraft hinter dem Projekt. Der 65-jährige Architekt, der seit 1983 hier lebt, war zu Beginn seiner Amtszeit zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Damals sprach er beim Verkehrsministerium in Athen vor, weil er den öffentlichen Nahverkehr der Insel auf Elektromobilität umstellen wollte. Zur gleichen Zeit verhandelten das griechische Außenministerium und Volkswagen über ein Projekt zur E-Mobilität auf den griechischen Inseln. Nur acht Monate später war beschlossene Sache, dass das Projekt auf Astypalea stattfinden würde. „Astypalea bietet Volkswagen die Chance zu erfahren, wie gut Systeme wie Shuttle on demand und Carsharing in einem geschlossenen System ohne wirkliche Alternativen funktionieren“, erzählt Nikolaos Komineas. „Die Komplexität der Mobilitätsentscheidungen ist auf einer kleinen Insel deutlich niedriger als in der Großstadt.“

Solarstrom statt Diesel

Das Straßennetz aus Astypalea besteht aus 30 Kilometern Hauptstraßen, 40 Kilometern Nebenstraßen und 120 Kilometern unbefestigter Schotterpisten. Es gibt fast 1500 Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren, und auch fast die gesamte auf der Insel benötigte Elektrizität wird heute mit Dieselgeneratoren hergestellt. Die CO₂-Emissionen der Insel betragen fast 5000 Tonnen im Jahr. In den nächsten Jahren soll das Energiesystem vollständig erneuert werden: Die Fahrzeuge mit konventionellem Antrieb werden durch etwa 1000 Elektrofahrzeuge ersetzt – vom Polizeiauto über Lieferwagen bis hin zu E-Bikes, Scootern und Privat-PKW wird Astypalea dann vollelektrisch unterwegs sein. Außerdem gehören zwei neue Mobilitätsdienste zum Konzept.

„Jeder versteht, dass es keinen Sinn macht, Elektroautos einzuführen, aber die Dieselgeneratoren zur Stromerzeugung weiterzubetreiben. Windräder stoßen jedoch auf viel Ablehnung“, weiß Bürgermeister Komineas. „Es gibt nun einen klaren Beschluss des Stadtrats, dass Astypalea keinen Strom über den eigenen Bedarf hinaus erzeugen will. Es soll keinen großen Windpark geben, und kein Kabel zu einer anderen Insel.“ Stattdessen wird bis 2023 ein Solarpark gebaut werden, der rund drei Megawatt Grünstrom liefern kann. Das reicht, um den Strombedarf der Elektroflotte und über 50 Prozent des gesamten Energiebedarfs der Insel zu decken. In den folgenden Jahren wird das neue Energiesystem weiter ausgebaut und soll dann rund 80 Prozent der benötigten Energie liefern. Für Netzstabilität und effiziente Nutzung der Energie sorgt ein Batteriespeichersystem.

Pilotprojekt für die Mobilität der Zukunft

Im Sommer 2021 wurden die ersten Elektroautos für Astypalea mit der „Blue Star“-Fähre von Piräus angeliefert. Bürgermeister, Flughafen und Polizei zeigen jetzt vollelektrische Präsenz. Einwohner der Insel, die ihren Verbrenner gegen ein Fahrzeug mit Elektromotor eintauschen, werden von der griechischen Regierung mit großzügigen Kaufprämien unterstützt. Thanos Papagiannis war im April 2022 einer der ersten Privatkunden, die ein Elektroauto bekamen: „Für Astypalea ist die E-Mobilität perfekt geeignet. Die Strecken sind kurz, der Stromverbrauch niedrig und das Ladenetz inzwischen sehr gut ausgebaut. Ich hoffe, dass wir mit diesem Projekt auch andere Regionen für mehr Klimaschutz und die E-Mobilität begeistern können.“

Mann mit Helm steht auf MopedVolkswagen AG

„Ich hätte mir nicht vorgestellt, dass so etwas Innovatives nach Astypalea kommt. Ich werde es sicher häufig nutzen, denn ich habe kein eigenes Auto oder Motorrad.“ – Athanasia Sismani, Bewohner von Astypalea

Volkswagen AG

Per ASTYBUS über die Insel

Ein zentraler Bestandteil des gesamten Projekts sind die neuen, ganzjährigen Mobilitätsdienste, die im Juni auf Astypalea eingeführt wurden. Sie ersetzen die traditionelle Buslinie, die bislang nur im Sommer im Einsatz war. „ASTYBUS“ heißt der Ride-Sharing-Dienst, bei dem fünf Elektrobusse die etwa 30 Haltestellen auf der Insel abfahren. Beim Vehicle-Sharing-Dienst „astyGO“ können Einheimische und Touristen sich Elektroautos, Scooter und E-Bikes ausleihen. Beide Mobilitätsdienste werden per Smartphone über die integrierte astyMOVE-App gebucht. Abgerechnet wird entweder pro Buchung oder per Flatrate, und für die Bewohner Astypaleas gibt es ein Jahresticket für 60 Euro. Die 25-jährige Athanasia Sismani lebt auf Astypalea und ist begeistert von den neuen Diensten: „Ich hätte mir nicht vorgestellt, dass so etwas Innovatives nach Astypalea kommt. Ich werde es sicher häufig nutzen, denn ich habe kein eigenes Auto oder Motorrad.“

Schrottfahrzeuge werden recycelt

Mittlerweile existieren bereits 20 öffentliche Ladepunkte, darunter einer zum Schnellladen, für die bislang etwa 40 E-Fahrzeuge auf der Insel. Neben den Fahrzeugen der Ride- und Car-Sharsharing-Dienste gibt es auch ein Elektro-Taxi und einen neuen Rettungswagen mit Elektroantrieb. Weil auf der Insel kaputte Motorräder, Autos und LKW normalerweise einfach irgendwo abgestellt und vergessen werden, hat die Inselverwaltung zusammen mit dem griechischen Volkswagen-Importeur Kosmocar jetzt eine Recycling-Initiative gestartet: Helfer sammeln die Schrottfahrzeuge ein, dann werden sie mit der Fähre nach Athen gebracht und dort fachgerecht recycelt.

Eine ganze Insel als Zukunftslabor

Nicht nur für die ehrgeizigen Klimaziele der griechischen Regierung, auch für andere Länder ist Astypalea die ideale Blaupause für die Mobilität der Zukunft: Die Insel ist abgeschlossen und hat genau die richtige Größe, um Verkehrssysteme effizient zu testen. Im Schnelldurchlauf können hier die Chancen und Herausforderungen beobachtet werden, mit denen Regierungen weltweit bei der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft konfrontiert sind. Um diese Prozesse besser verstehen zu können, wird das Projekt von Wissenschaftlern der Universität Strathclyde (Schottland) und der Universität der Ägäis (Griechenland) begleitet. Ihre Befragungen sollen helfen, die Perspektive der Inselbewohner mit einzubeziehen und den Transformationsprozess besser zu verstehen.

Bürgermeister Nikolaos Komineas will noch mehr: „Mein übergreifendes Ziel ist es, Menschen zu überzeugen, länger auf Astypalea zu bleiben und hier heimisch zu werden. Das stärkt unsere Community ebenso wie unsere lokale Wirtschaft. Unser Transportsystem wird zukünftig 5G-Technologie erfordern, das ermöglicht vielen Menschen, von Astypalea aus zu arbeiten, die das heute noch nicht können.“

Intelligenter Laden

Beispiele wie Astypalea zeigen, was mit Elektromobilität alles möglich ist. Für diese und andere Fälle hat SMA kürzlich den EV Charger Business vorgestellt. Dieses Ladesystem ist optimal für Betriebe geeignet, die sich eine nachhaltige Ladeinfrastruktur aufbauen wollen. In Kombination mit dem SMA Data Manager M überwacht der EV Charger Business die Ladevorgänge und stellt sicher, dass immer die maximal verfügbare Menge an kostengünstigem und CO2-neutralem Solarstrom für die Ladevorgänge genutzt wird.