Das „Plus” in Gebäude

So sollte jeder bauen
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© Adam Mork

Text: Diana Olbrich, 28.11.2019

Die Gemeinde Wüstenrot, die man sonst nur mit der gleichnamigen Bausparkasse verbindet, ist bis 2007 totaler Durchschnitt. Mit 6.500 Einwohnern gehört sie zu den eher kleineren im Landkreis Heilbronn und leidet, wie viele ländliche Gegenden, unter dem demografischen Wandel.

Doch genau dieser Durchschnitt wird 2007 zum Grundbaustein für ein Pilotprojekt. Bis 2020 soll Wüstenrot zur „Plusenergiegemeinde” werden. Eine Gemeinde, die mittels einer dezentralen Energieversorgung mehr Energie produziert, als sie verbraucht. Klingt nach einer Menge Optimismus, oder?

Deutschland will zur Green Economy werden

Auslöser für das Projekt war die Energiewende. Damit die Transformation gelingt, will Deutschland unter anderem den Energieverbrauch in Gebäuden reduzieren. Mithilfe des Nullenergiestandards soll bis 2050 sogar ein komplett klimaneutraler Gebäudebestand geschaffen werden. Denn die Unterhaltung von Gebäuden beträgt Stand 2010 knapp 38 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs in Deutschland. Durch neue technologische Entwicklungen im Bereich der Energieversorgung lässt sich hier viel sparen.
Ein Haus mit optimiertem Heizsystem verbraucht allein schon 75 bis 90 Prozent weniger Energie gegenüber einem Haus mit herkömmlichem Heizsystem.

Mitte 2010 hat die EU mit der neuen Gebäuderichtlinie die Weichen für den künftigen Energiestandard gestellt. Zunächst sollen nur öffentliche Gebäude, ab 31.12.2020 auch alle anderen, neu errichteten Bürogebäude sogenannte „Null-Energie-Häuser“ sein. Doch was verbirgt sich hinter den Begriffen „Nullenergiehaus” und „Plusenergiehaus” eigentlich? Und was hat das „Passivhaus” damit zu tun?

Adam Mork

Das Passivhaus: Es bildet die Grundlage der Nullenergiehäuser. Dahinter steckt die Idee einer konsequenten Verbrauchsoptimierung. Diese Gebäudeform kommt ohne aktives Heizungssystem, beispielsweise eine mit Öl oder Elektrizität betriebene Zentralheizung, aus. Die benötigte Wärme wird durch passive Maßnahmen gewonnen. Durch bauliche Erweiterungen wie eine optimale Wärmedämmung bei Mauerwerk, Verglasung, Türen und Fenstern. Oder mithilfe einer Beheizung durch nachhaltige Methoden wie Solarenergie. Kennzeichnend dafür sind vor allem große, nach Süden ausgerichtete Fensterfronten. Auch ein optimiertes Belüftungssystem mit Wärmetauscher zur Erneuerung der Atemluft und gleichzeitiger Wärmerückgewinnung gehört zum baulichen Umfang eines Passivhauses.

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Das Sunlighthouse ist das erste CO2-neutrale Einfamilienhaus Österreichs

Das Nullenergiehaus: die konsequente Weiterentwicklung des Passivhauses. Auch hier kommen die Maßnahmen der Passivhaustechnik zur Anwendung, um den allgemeinen Energiebedarf massiv zu senken. Darüber hinaus wird der noch offene Bedarf jedoch durch eigene Stromerzeugung gedeckt, vorzugsweise durch eine Solarstromanlage. Ziel ist es, bei diesem Gebäudetyp ganz ohne zusätzliche Energiezufuhr von außen auszukommen. Die synergetischen Effekte führen letztendlich zur Verbrauchsneutralität. Es wird also nur so viel Energie erzeugt, wie verbraucht wird. Am Ende ergibt die Energiebilanz gleich null.

Das Plusenergiehaus: Dieses Haus geht noch einen Schritt weiter. Ist die Solarstromanlage so dimensioniert, dass sie mehr Strom erzeugt als im Passivhaus-optimierten Gebäude benötigt wird, handelt es sich um ein Plusenergiehaus. In diesem Fall erzeugt das Haus einen dauerhaften, stabilen Überschuss, der vermarktet werden kann. Dabei gilt, wie bei allen drei Konzepten, das Prinzip des Jahresmittels: Übersteigt der Gesamtertrag der verkauften Elektrizität über das Jahr hinweg die Gesamtkosten zugekaufter Energie, gilt das Gebäude als Plusenergiehaus.

Der Fall Wüstenrot

Mit 3 Millionen Euro förderte das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (kurz BMWi) den Umbau zur Plusenergiegemeinde. Aber warum wird eine Durchschnitts-Gemeinde zum Vorbild für das fortschrittliche Energiekonzept? Die Antwort ist die Generalisierbarkeit des Projekts. Denn der lokal initiierte Energiewendeprozess hat das Potenzial zu Übertragung. Wie in Wüstenrot ist der Zugang zu erneuerbaren Energiequellen für die meisten deutschen Gemeinden schwierig. Darüber hinaus sind sie durch eine eher schwach ausgeprägte lokale Gewerbestruktur und eine bestehende Infrastruktur gekennzeichnet. Auf den ersten Blick eine Mammutaufgabe, wenn man überlegt, wie man die Stadt von ihrem bestehenden Stromnetz und der bereits in den Gebäuden verbauten Anlagentechnik trennen soll. Aber die Gemeinde zeigt, dass es geht. Schritt für Schritt versteht sich.

Bislang schaffte es die Gemeinde, eine kommunale Energieversorgungsgesellschaft zu gründen, das lokale Stromnetz zu kommunalisieren und ein Neubaugebiet aufzubauen, das nur aus Plusenergiehäusern besteht. Um genügend Strom zu generieren, wurden diese mit Photovoltaik-Anlagen sowie einem integrierten Wärmekonzept auf Basis eines Kaltwärmenetzes, Agrothermiekollektoren und Wärmepumpen ausgestattet. Besonders interessant ist dabei die innovative Planung der Gemeinde. Auch hier setzt sie ein Zeichen, denn sie ist beispielsweise die erste, die in Europa Agrothermie für ein Kaltwärmenetz verwendete. Vereinfacht handelt es sich bei der Agrothermie um die Gewinnung von Niedrigtemperaturwärme aus Ackerflächen. Um bis 2020 komplett energieautark handeln zu können, soll nun auch der Rest der Gemeinde den Plusenergiestatus erreichen. Dazu sind neben der Installation einer Kleinwindkraft-Pilotanlage weitere Folgeprojekte in Planung.

Die Vorteile werden gefördert

4,6 Millionen – das ist die Anzahl der Wohnungen, die, wie hier in Wüstenrot, seit 2006 bis Dezember 2016 in Deutschland energetisch saniert oder neu gebaut wurden. Denn sowohl Plusenergiehäuser als auch Nullenergiehäuser sind Gegenstand von Förderprogrammen, besonders aus Mitteln der KfW und des BAFA. Auch eine Reihe von Bundesländern fördert den Bau dieser Häuser. Weitere Initiativen wie die „EnEff.Gebäude.2050”, „Solares Bauen” des BMWi oder der Studentenwettbewerb „Solar Decathlon” setzen Maßstäbe in den Bereichen Forschung, Lehre und Praxis des energieeffizienten Bauens.

Der Grund: Die angestrebten Maßnahmen verringern, wie das Beispiel Wüstenrot zeigt, nicht nur den CO2-Ausstoß, sondern fördern auch die lokale Wertschöpfung, ermöglichen größere Unabhängigkeit und stärken den sozialen Zusammenhalt in der Gemeinde. Es gibt zahlreiche Sanierungs- und Neubauprojekte, die eine solch positive Bilanz aufweisen können. Doch es gibt auch Hindernisse, die die Entwicklung hin zu einem klimaneutralen Gebäudestandard verhindern. Teure Umbaumaßnahmen, die planerische Komplexität und fehlende bundesweite Standards erschweren den Prozess hin zu mehr Energieeffizienz. Unser Fazit: Bleibt zu hoffen, dass nachhaltige Projekte wie Wüstenrot auch weiterhin ausreichend gefördert werden und von nun an mehr Gemeinden das Plus in ihren Gebäuden zum Standard machen.